Foto: © Alexandra Kiel

Leseprobe aus  Winzige Wahrscheinlichkeiten

1. Anfänge und Rückblicke

Dienstag, 12.9.

Sein Arm lag auf meinem Bauch. Ganz langsam und vorsichtig hob ich ihn an und versuchte, darunter hervorzuschlüpfen, ohne ihn aufzuwecken. Das wollte ich unbedingt vermeiden. Besser war es, unbemerkt zu verschwinden, denn das brachte keine Probleme mit sich. Ich schaffte es tatsächlich, mich zu befreien, und warf einen prüfenden Blick in sein Gesicht. Er hatte sich nicht gerührt und schlief weiter, sein Atem leise und gleichmäßig. Mit nackten Füßen lautlos über den weichen Teppich huschend sammelte ich schnell meine verstreute Kleidung zusammen und zog mich an. Leider lag er mit dem Oberkörper auf dem Seidenschal, den ich um den Hals getragen hatte und der so gut zu meinem Kleid passte. Den würde ich nicht heimlich unter ihm herausziehen können, sondern zurücklassen müssen. Schade eigentlich.

An der Zimmertür blickte ich kurz zurück auf die schlafende Gestalt. Fast tat mir mein Abgang leid. Wir hatten eine fantastische Nacht miteinander verbracht, in der ich jeden Moment genossen hatte.

Während Amerika am 11. September um die Opfer des Anschlags auf das World Trade Center trauerte, kämpfte ich an diesem Tag alljährlich mit meinen eigenen Dämonen. An diesem Datum ertrug ich es nicht, allein zu sein, und so hatte ich es mir zur Regel gemacht, irgendjemanden in einer Bar aufzureißen und die Nacht mit ihm zu verbringen. Dieses Jahr hatte ich das Terrace gewählt. Es war eins der besten Hotels der Stadt, alles sehr gediegen und geschmackvoll, die Zimmer fast übertrieben teuer. Ich hatte ein bisschen Luxus gewollt, keinen billigen Fick in einer schmuddeligen Absteige, auch wenn ich mir keine Illusion darüber machte, dass es trotz der noblen Umgebung genau das werden würde.

So hatte ich an einem kleinen Tisch in einer hinteren Ecke der Bar gesessen und mich mit einem gepflegten Scotch meinen dunklen Gedanken hingegeben. Aus den Lautsprechern klang leise gefühlvoller Blues, der meine Stimmung hervorragend untermalte. Noch waren die Tische und der Tresen spärlich besetzt, meist von Geschäftsleuten in edlem Zwirn, die ihre Verhandlungen in einen angenehmeren Rahmen verlegt hatten oder einfach nur den Arbeitstag mit einem Drink ausklingen lassen wollten. Ich war eine der wenigen Frauen und hatte schon den einen oder anderen neugierigen Blick eingefangen, was ich aber ignorierte. Es war noch früh am Abend, und ich hatte Zeit, wollte nichts überstürzen. Mit einem dunkelroten Etuikleid im klassischen Stil und passenden Pumps mit moderaten Absätzen war ich elegant und ansprechend, aber nicht billig gekleidet. Schließlich wollte ich nicht wie eine Prostituierte wirken. Statt Schmuck hatte ich einen dünnen Seidenschal um meinen Hals geknotet, dessen Enden lang über meinen Rücken hinunterhingen.

Noch hatte ich niemanden entdeckt, der mein Interesse geweckt hätte. Also nahm ich einen Schluck von meinem Whiskey und konzentrierte mich darauf, das Brennen in meiner Kehle zu meistern und nicht zu husten. Langsam wich es einer angenehmen Wärme, die meinen gesamten Körper durchzog. Zufrieden entspannte ich mich gegen die gepolsterte Lehne meines Sessels und schloss kurz die Augen. Solch harte Sachen trank ich selten, aber für heute Abend war dieser zwölf Jahre alte Tropfen genau das Richtige.

Schon bald darauf bemerkte ich, dass mich einer der Gäste am Tresen beobachtete. Er war wohl einige Jahre älter als ich, eher Ende als Mitte Dreißig, teuer angezogen, ziemlich beleibt und trug, wie es den Anschein hatte, einen Ehering. Ich vermied es, ihn anzusehen, denn keinesfalls wollte ich einladend wirken. Ich hatte nichts gegen dicke Männer. Wie ich aus früheren One-Night-Stands gelernt hatte, konnten sie erstaunlich gute Liebhaber sein. Es kam eben wirklich nicht auf die äußere Hülle eines Menschen an. Aber dieser Mann hier hatte etwas in seinem Gesichtsausdruck, das mich abstieß. Er war mir auf Anhieb unsympathisch. Außerdem war er verheiratet. Ich schuldete seiner unbekannten Frau zwar nichts, wollte aber nach Möglichkeit auch nicht Teil eines Ehebruchs sein.

Meine Blick-Vermeidungsstrategie war offenbar nicht erfolgreich, denn ein paar Minuten später trat er an meinen Tisch und wollte mich zu einem Drink einladen. Ich schaute ihm in die Augen und fand auch bei näherer Betrachtung meine Einschätzung bestätigt: Ein gemeiner, fast lauernder Blick tastete mich von oben bis unten ab.

»Das ist nett, aber ich warte auf jemanden, also lieber nicht«, ließ ich ihn höflich abblitzen.

»Dann eben nicht. Hast sowieso besser ausgesehen von Weitem«, erwiderte er geringschätzig und ging zurück zu seinem Hocker an der Bar. Danke, blöder Fettsack.

Wieder widmete ich mich meinem Getränk und dachte an die 11. September der vergangenen Jahre, an gute und nicht so gute Bekanntschaften für eine Nacht. Hoffentlich würde ich dieses Jahr eine der ersten Kategorie erwischen, aber im Grunde war es egal, ich wollte nur abgelenkt und nicht allein sein.

Als er dann wenig später den Raum betrat, fiel er mir gleich auf: ein großer, attraktiver Mann in einem gut sitzenden Anzug, der sich leichtfüßig und geschmeidig bewegte. Er nahm am Tresen Platz und bestellte sich etwas. Während er wartete, drehte er sich um und ließ seinen Blick halb interessiert durch die Bar schweifen – bis er an mir hängen blieb. Seine Augen verengten sich leicht, so als würde er über etwas Schwerwiegendes nachdenken. Quer durch den Raum schaute ich gerade und direkt zurück. Plötzlich ergriff er sein Glas und kam zu mir herüber.

»Darf ich Sie zu einem Drink einladen?«

Ok, das gab schon mal keine Punkte für Originalität.

Dennoch lächelte ich ihn freundlich an, lehnte sein Angebot allerdings ab: »Ich zahle meine Getränke lieber selbst, aber Sie können sich gern setzen, wenn es das ist, was Sie eigentlich wollen.«

Er stutzte, hob dann beide Hände in entwaffnender Geste und lachte mich an: »Ertappt!«

Aus der Nähe sah er noch besser aus. Seine Züge waren ebenmäßig und ausdrucksstark, die Augen von einem hellen, freundlichen Braun, das man selten sah. Sein mittelbraunes Haar war perfekt geschnitten und wies oben ein paar hellere Strähnen auf. Unter dem Anzug zeichnete sich ein muskulöser Körper ab. Er war wahrscheinlich der Traum vieler Frauen und wusste das sicherlich auch. Allerdings, so registrierte ich zufrieden, strahlte er nicht die abstoßende Überheblichkeit manch gutaussehender Männer aus, die sich ihrer Anziehungskraft bewusst waren. Das war durchaus vielversprechend.

Er stellte sich als Jack vor, und wir begannen mit allgemeinem Smalltalk. Wie immer vermied ich es, meinen Namen zu nennen oder über persönliche Dinge zu sprechen. Schon bald hatte ich ihn in das von mir gebuchte Zimmer eingeladen. (Mein Zimmer, meine Regeln.) Falls er sich wunderte, dass ich so leicht zu haben war, ließ er es sich nicht anmerken.

Dort angekommen entstand ein kurzer Moment der Verlegenheit. Schnell aber ergriff er die Initiative und lächelte mich wieder mit seinen freundlichen Augen an: »Darf ich dich umarmen? Das ist vielleicht ein guter Anfang.«

Und dann hatte er mich tatsächlich langsam und behutsam in seine Arme genommen, bevor er mich vorsichtig geküsst hatte. Ich fühlte mich in dieser Umarmung sehr gut aufgehoben, schloss meine Augen und erwiderte den Kuss. Seine großen Hände fuhren sanft in meine Haare, und mit Fingern und Lippen strich er über mein Gesicht, ließ kaum einen Quadratzentimeter aus. Ja, der Mann wusste, wie man einer Frau den Kopf verdrehte. Er ließ sich Zeit, gab uns die Möglichkeit, uns aneinander zu gewöhnen – und ich folgte willig.

Es dauerte dann trotzdem nicht lange, bis wir uns unserer Kleidung entledigt hatten und auf das Bett wechselten. Weiterhin überließ ich ihm die Führung und genoss die Aufmerksamkeiten, die er inzwischen meinem gesamten Körper schenkte. Ich verbannte meine Dämonen in eine Zimmerecke und konzentrierte mich ganz auf ihn, blendete die Realität aus und erwiderte seine Berührungen mit allem Gefühl, das in mir war. Schon bald zeigten wir einander recht leidenschaftlich, wie gut wir harmonierten. Es war ein Geben und Nehmen, und wir stachelten uns gegenseitig an, als dürfte das, was wir taten, nie aufhören – und das tat es auch lange nicht, bis wir irgendwann erschöpft einschliefen.

Er hatte nicht nur seinen eigenen Spaß im Sinn gehabt, sondern es schien ihm tatsächlich wichtig gewesen zu sein, dass auch ich auf meine Kosten kam … dass unsere Begegnung eine gemeinsame Sache war, fast als wären wir ein Paar. Nein, ein billiger Fick war das nicht gewesen.

So stand ich nun zögernd in der Tür und schaute etwas wehmütig zurück. Aber ich war nicht bereit für mehr, so schön es auch gewesen war. Ich hatte den 11. September dieses Jahr gut überstanden, das musste reichen. Leise zog ich die Tür hinter mir zu.

Es war noch früh. Ich konnte eine große Runde im Park laufen, bevor ich zur Arbeit musste. Vielleicht kam Marc sogar mit. Zwar hatte ich ihm vorsorglich abgesagt, aber womöglich war er doch schon aufgestanden und hatte Lust mitzukommen.

* * * * * * *

Mit einem Ruck wachte er auf und sah den leeren Platz neben sich im Bett. Mit ein paar weiteren Blicken stellte er fest, dass ihre Kleidung nicht mehr auf dem Boden lag und im Bad kein Licht brannte. Sie war verschwunden. Trotzdem fragte er laut in die Stille: »Hallo, bist du noch da?« Wie zu erwarten, kam keine Antwort. Seufzend drehte er sich auf den Rücken und gähnte laut. Obwohl so ein Morgen nach einem One-Night-Stand eine peinliche Angelegenheit sein konnte, war er doch irgendwie enttäuscht. Es war eine großartige Nacht gewesen, und gern hätte er sich von ihr verabschiedet.

Jack streckte sich und überließ sich seinen Erinnerungen an den letzten Abend. Als er sie in der Bar entdeckt hatte, war sein Blick sofort gefangen gewesen. Diese Frau strahlte eine Einsamkeit und Traurigkeit aus, die ihm fast wehtat. Er wollte sie umarmen und ihr sagen, dass alles wieder gut würde. Wie absurd. Aber es war nicht nur Mitleid, das er spürte. Da war noch etwas anderes. Mit ihren wunderschönen, großen blauen Augen traf sie direkt in sein Inneres, und ehe er sichs versah, war er auf dem Weg zu ihr gewesen – und eröffnete mit dem denkbar schlechtesten Spruch. Ein kleines Lächeln umspielte seinen Mund, als er an ihre Ablehnung des Drinks dachte. Aber er hatte trotzdem Erfolg gehabt.

Kurz hatte er gezweifelt, ob sie nicht eine Prostituierte war, so leicht, wie sie sich aufgabeln ließ. Das hätte ihn in ziemliche Schwierigkeiten gebracht. Doch dann hätte sie sich zu dem Getränk einladen lassen und nicht schon ein Zimmer gehabt und hätte vor allen Dingen zuallererst die Bezahlung geregelt. Nein, eine Professionelle war sie nicht.

Sie war sorgsam darauf bedacht gewesen, nichts von sich preiszugeben, und er hatte es zugelassen. Es spielte ja keine Rolle.

Eine gelangweilte, reiche Ehefrau? Ein Zimmer im Terrace war nicht billig. Aber sie hatte keinen Ring getragen, das hatte sein prüfender Blick gleich zu Anfang ermittelt. Die entsprechende Stelle an ihrem Finger war nicht schmaler, die Haut nicht glatt geschliffen von einem Ring, der nur für den Abend abgelegt worden war. Nein, verheiratet war sie wohl auch nicht.

Auf jeden Fall hatte sie ein oder mehrere Kinder geboren, wenn er die dünnen, silbrigen Linien an ihrem Bauch und Po richtig deutete. Keine dunkelroten oder blauen Streifen, also nicht frisch. Die letzte Geburt lag schon ein paar Jahre zurück.

Als er aufstand, sah er, dass sie ihren Schal zurückgelassen hatte. Mit seinen langen Enden über ihren Rücken hängend hatte er von vorne ausgesehen wie ein Halsband. Das hatte ihn mächtig angemacht, obwohl er eigentlich nicht auf Unterwerfung und Machtspielchen stand. Er duschte ausgiebig, zog sich an und machte sich auf den Weg zur Rezeption.

Eine reiche, geschiedene Frau vielleicht?

Auf jeden Fall eine, die ihre Identität nicht preisgeben wollte und damit auch erfolgreich war. Seine Nachforschungen landeten nämlich in einer Sackgasse. Wie man ihm mitteilte, hatte der Barkeeper von gestern Abend gerade erst neu angefangen. Die Chance, dass er etwas über sie wusste, war also eher gering. Trotzdem würde er bei nächster Gelegenheit noch einmal während der Abendschicht vorbeikommen und ihn befragen.

Der Concierge war ansonsten zunächst eher unkooperativ, aber als Jack dann seine Marke gezogen und etwas von »wichtiger Zeugin« und »Behinderung der Justiz« gefaselt hatte, schaute er doch im Computer nach: Sie hatte die Reservierung online gemacht und eine Kreditkartennummer hinterlegt, aber bei Ankunft bar bezahlt. Ihr Name: Jane Smith. Wie originell.

Frustriert fand er sich auf der Straße wieder und betrachtete den Schal in seiner Hand. Es war kein gläserner Schuh, aber seine unbekannte Bettgefährtin war ebenso verschwunden wie Cinderella.

* * * * * * *

JULES

online

Jules:

9/11 gut überstanden? (7.15 am)

Lexi:

Ja, alles bestens. (7.15 am)

Jules:

Freut mich zu hören. Details? (7.16 am)

Lexi:

Es war FANTASTISCH. (7.16 am)

Jules:

Hast du seine Telefonnummer? (7.16 am)

Lexi:

Nein, bin weggeschlichen. (7.17 am)

Jules:

Warum? (7.17 am)

Lexi:

Weiß nicht. Bin noch nicht bereit. (7.17 am)

Jules:

Hätte ja nichts Festes sein müssen. (7.18 am)

Lexi:

Ok, hast ja recht. (7.18 am)

Jules:

Ich habe immer recht. (7.18 am)

Lexi:

Sehr witzig. Wie ist es in Wisconsin? (7.19 am)

Jules:

Wunderschön, und es ist toll, meine Eltern zu sehen. Freitag steigt die große Party. Sie haben völlig übertrieben. (7.20 am)

Lexi:

40. Hochzeitstag ist ja nun auch wirklich was Besonderes. Grüß sie bitte von mir und gratuliere ihnen. (7.21 am)

Jules:

Mach ich. Sehen wir uns Sonntagabend? (7.22 am)

Lexi:

Bist du dann schon wieder zurück? (7.22 am)

Jules:

Ja, muss Montag arbeiten. Gem hat Nachtschicht, bin also den Abend allein. (7.23 am)

Lexi:

Dann gern. 7 pm bei mir? (7.23 am)

Jules:

Ok, freue mich auf dich. Pass auf dich auf. (7.24 am)

Lexi:

Du auch! Viel Spaß am Freitag! (7.24 am)


Lächelnd legte ich das Handy beiseite. Ich hatte mich dann doch gegen eine Laufrunde im Park entschieden, sondern stattdessen für ein ausgedehntes Frühstück mit Zeitung, und so saß ich nun in meiner Küche und genoss den Morgen. Die Sonne schien zum Fenster herein und tauchte alles in ein helles, freundliches Licht. Früher hatte ich die Morgenstunden gehasst und gefürchtet, kündeten sie doch einen neuen unerträglichen Tag an, der durchlebt werden musste. Die einsamen und dunklen Stunden der Nacht passten da viel besser zu meiner Gemütsverfassung. Glücklicherweise hatte ich diese Zeiten hinter mir gelassen – sicherlich noch nicht endgültig, aber an vielen Tagen im Jahr. Sogar an diesem 12. September. Dank Jack.

Ich dachte an meinen abgenickten Lebensweg. Geboren und aufgewachsen war ich im Norden Deutschlands. Meine Mutter starb, als ich noch ein Baby war, und in meiner Erinnerung gab es nur meinen Vater und mich. Obwohl wir finanziell nicht besonders gut gestellt waren, hatte ich doch eine glückliche Kindheit. Selbst immer zurücksteckend ermöglichte er mir all meine Wünsche, wenn es nur irgendwie ging. Ich war seine kleine Lillimaus, eine Abwandlung meines ersten Vornamens Liliane. Mit fünfzehn traf ich dann Jan. Er war neu an der Schule und zwei Klassen über mir. Ein paar Wochen später küssten wir uns zum ersten Mal hinter der Turnhalle, von da an gehörten wir zusammen. Er war meine erste große Liebe, und gegen alle Wahrscheinlichkeiten blieben wir ein Paar – nicht nur für den Rest unserer Schulzeit, sondern auch, als Jan nach dem Abitur ein Studium begann und auch dann noch, als ich ihm später an die Uni folgte und selbst Studentin wurde.

Ich liebte Zahlen und hatte mich für Mathematik eingeschrieben. Jan studierte Jura, aber seine Leidenschaft war das Fliegen. Durch diverse Nebenjobs und auch großzügige Zuschüsse seiner Eltern hatte er einen Pilotenschein gemacht und flog fast jedes Wochenende mit einer kleinen Cessna des Luftsportvereins Kiel zahlende Gäste über die Stadt oder ländliche Teile Schleswig-Holsteins. Ich war einige Male mitgekommen, traute diesen kleinen, klapprigen Flugzeugen aber nicht recht und blieb dann lieber fern, allerdings immer voller Sorge, ob er auch heil und gesund zurückkommen würde.

Wir passten gut zusammen, liebten einander sehr und verstanden uns mit der jeweiligen Familie des anderen. Als ich dann nach zwei Semestern Studium mit 21 ungeplant schwanger wurde, nahmen unsere Eltern diese Neuigkeit nicht nur gelassen, sondern auch mit Freude auf. Jan zog bei meinem Vater und mir dauerhaft mit ein, und neun Monate später wurde unser Sohn Niklas geboren. Ich war glücklich, das Leben hatte mir eine wundervolle Familie geschenkt, und alles schien einen guten Weg zu gehen.

Bis zum 11. September zwei Jahre später.

Da Jans Fliegerei viel Geld kostete und wir als Studenten nun auch noch ein Kind zu unterhalten hatten, jobbte ich nebenbei als Bürokraft in einer Anwaltskanzlei. Als ich am späten Nachmittag von der Arbeit nach Hause kam, war niemand da. Stattdessen fand ich einen Zettel von Jan vor: Das Wetter war ungewöhnlich schön gewesen, und ihm war ein kostenloser Testflug mit einer neuen Maschine angeboten worden. Er hatte nicht widerstehen können und Niklas und meinen Vater mitgenommen. Er würde es »wiedergutmachen« versprach er in seiner Nachricht. Ich war sauer. Ja, das würde er wirklich wiedergutmachen müssen, und so leicht würde das nicht werden. Einer der wenigen Streitpunkte unserer Beziehung war es gewesen, dass ich Niklas nicht mit ihm fliegen lassen wollte. Ich fand ihn mit seinen zwei Jahren noch viel zu klein und meinte, man müsse ihn nicht unnötig der Gefahr aussetzen. Jan sah darin natürlich nichts Gefährliches und sprach nur davon, welch tolles Erlebnis es für Niklas wäre und dass man ihn nicht früh genug an die Fliegerei gewöhnen könne.

Manche Worte treffen wie ein Fausthieb in die Magengrube. Sie rauben Atem, bringen Übelkeit und im Nachgang unfassbaren Schmerz. Obwohl taktvoll und mitfühlend vorgebracht, waren es solche Worte, die die Polizeibeamten sprachen, als sie abends vor unserer Tür standen und mir mitteilten, dass meine Familie abgestürzt war. Soweit es sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt sagen ließ, hatte eine unerwartete Turbulenz das Flugzeug aus dem Gleichgewicht gebracht, das es nicht wiedergefunden hatte. Sie waren nach dem Aufprall alle sofort tot gewesen.

Die nächsten Tage erlebte ich wie in Trance. Ich identifizierte die Leichen meiner Lieben in der Pathologie der Uniklinik und erledigte anschließend viel Organisatorisches. Da wir nicht verheiratet gewesen waren, musste ich Absprachen mit Jans Eltern tätigen. Auch sie hatte es völlig aus der Bahn geworfen, aber wir waren uns einig, dass es eine gemeinsame Bestattung geben sollte. So stand ich also einige Zeit später mit den beiden und ein paar Freunden in strömendem Regen, bei hohem Seegang und sehr seekrank an der Reling eines Schiffes und übergab die Asche meiner Lieben dem Meer.

Inzwischen hatte ich mein Frühstück beendet und fragte mich, ob es klug gewesen war, mich diesen Erinnerungen hinzugeben. Die Zeitung lag unberührt neben mir, ihre Lektüre wäre vielleicht die bessere Wahl gewesen. Trotzdem wanderten meine Gedanken wieder in die Vergangenheit.

Es folgte die große Leere. Mit knapp 24 war ich auf einen Schlag sozusagen Witwe, verwaiste Mutter und selbst Waise geworden. So hatte meine Lebensplanung nicht ausgesehen. Aber es kam noch schlimmer: Eine knappe Woche nach dem Absturz gewann ich den übervollen Jackpot der Euromillions-Lotterie. Als Mathematikerin wusste ich natürlich, dass die Wahrscheinlichkeit dafür verschwindend gering war. Jeder vernünftige Mensch hätte den Prozentsatz von 0,00000071511% auf 0% abgerundet. Dennoch hatten Jan und ich ein Dauerlos gekauft und uns in unseren Träumen ein anderes Leben ohne finanzielle Nöte und voller Freiheiten ausgemalt. Wir hätten nicht mehr arbeiten müssen, Jan hätte fliegen können, ich studieren, reisen, lernen und meinem Vater all das zurückgeben, was er sich um meinetwillen immer versagt hatte. Alle zusammen hätten wir in ein großes Haus mit viel Platz und einem großen Garten ziehen können. Niklas hätte Geldsorgen nie kennengelernt, und alle Ausbildungswege oder berufliche Türen hätten ihm offen gestanden. All das war nun nicht nur zum Greifen nahe, sondern wirklich und wahrhaftig möglich. Bis auf das kleine Detail, dass es Jan und Niklas und meinen Vater nicht mehr gab.

Ich haderte mit allem, badete in Selbstmitleid, befeuerte meine Wut auf Jan und seine tragische Entscheidung und trauerte um die viel zu früh ausgelöschten Leben, meines eingeschlossen. Ich verfluchte die winzigen Zahlen, die mir dieses unfaire Schicksal beschert hatten. Wie groß war schon die Wahrscheinlichkeit, dass an einem eher windstillen Tag eine solche Turbulenz auftrat und einen erfahrenen Piloten in tödliche Schwierigkeiten brachte? Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass die einzige Hinterbliebene gleich danach einen riesenhaften Lottogewinn machen würde? Ich hasste diese Winzlinge, mehr als frech hatten sie mir doppelt ins Gesicht gelacht.

Alles in unserem Haus erinnerte mich an meine tote Familie. Wie würde ich es hier je aushalten können? Aus einem Impuls heraus beschloss ich, mein altes Leben hinter mir zu lassen. Es war ohnehin vorbei. Bis auf einige wenige Erinnerungsstücke, die ich in ein paar Umzugskartons bei einer Freundin auf dem Dachboden unterbrachte, trennte ich mich von allem. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich das Haus entrümpelt, es selbst und auch das Auto verkauft. Ich parkte meinen Millionenschatz auf einem Schweizer Nummernkonto und flog von dort weiter in die USA.

Die grandiose Natur des amerikanischen Westens hatte mich schon immer fasziniert, und nun hatte ich die Zeit und Mittel für einen Besuch. Aber als ich dann in der erhabenen Bergwelt von Yosemite stand, fühlte ich mich nur klein, unwürdig und einsam. Auch die riesigen Bäume von Sequoia verstärkten dieses Gefühl nur. Obwohl beide Ziele jedes Jahr Millionen von Touristen anzogen, verliefen sie sich in den Weiten der Nationalparks, so dass diese abseits der Hotspots und trotz ihrer Schönheit öde und trostlos auf mich wirkten.

Ich erkannte, dass ich menschliche Gesellschaft brauchte, wenn ich mich der Trauer nicht völlig ausliefern wollte, und so landete ich schon ein paar Tage später in San Francisco. Die Stadt der Hippie- und Flowerpower-Bewegung gefiel mir auf Anhieb. Auch wenn diese Ära eher in die Zeit meiner Eltern oder gar Großeltern gehörte, hatte die Stadt sich etwas von diesem besonderen Flair bewahrt. Sie wirkte jung und dynamisch und war allein durch ihre Geografie spannend, konnte doch hinter jeder Ecke eine neue steile Straße einen unerwarteten Hügel erklimmen oder hinunterführen, einen neuen Ausblick eröffnend.

Nach der für mich enttäuschenden Natur war die Stadt eine willkommene und aufregende Abwechslung. Obwohl ihre Einwohner wahrscheinlich auch nur ihren normalen Geschäften nachgingen wie alle anderen auch, wirkten sie voller Leben und Lebenslust. Ich schmiss meinen Rucksack auf irgendein Hostelbett und stürzte mich in dieses tobende Treiben. Ich zog durch Bars und Clubs, feierte ausgelassen, tanzte und trank und sog alles in mich hinein. Tagsüber schlief ich, nachts war ich unterwegs.

So hatte ich Jules kennengelernt. Ihr richtiger Name war Julia, aber wie sich schon bald herausstellte, war sie ein echtes Juwel, so dass ihr Spitzname mehr als passend war. Sie arbeitete in einem Club, in den ich besonders gern ging. Er hatte mehrere Räume und bot für jeden etwas. Die LGBTQ-Szene war hier genauso vertreten wie das übliche Hetero-Publikum. Es gab mehrere Räume zum Tanzen mit kleinen Bühnen für verschiedenste Showeinlagen von Travestie bis Gogo-Dancing und einen ruhigeren Barbereich. Jules hatte als Kellnerin angefangen, war aber im Lauf der Zeit zum Mädchen-für-alles des Besitzers und Managers avanciert. Sie machte zwar hauptsächlich Buchhaltung und Organisation, sprang aber überall ein, wo es nötig war: hinter der Bar, an der Technik, gelegentlich sogar bei der Putzcrew.

In einer Tanzpause hatte ich mich am Tresen niedergelassen, wo sie gerade Cocktails mixte. Wir kamen ins Gespräch und surften sofort auf gleicher Wellenlänge. Sie hatte eine hässliche Trennung hinter sich und suchte eine neue Mitbewohnerin. Kurzerhand bot sie mir das Zimmer an, und so war ich also in der Stadt des heiligen Franziskus hängengeblieben – des Heiligen, der mit den Tieren sprechen konnte, alle Geschöpfe der Erde liebte und nun auch mich willkommen hieß. Das lag jetzt knapp neun Jahre zurück.

Genug Vergangenheit! Mein Handy ließ mich wissen, dass ich es jetzt eilig hatte, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. An vier Tagen der Woche arbeitete ich ehrenamtlich in einer Obdachlosenunterkunft im Stadtteil Tenderloin. Zusammen mit wechselnden anderen Freiwilligen kochte ich dort das Mittagessen und bereitete oft auch eine Suppe oder ähnliches für den Abend vor. Da heute keine weiteren Helfer erschienen waren, hatte ich alle Hände voll zu tun, und so blieb mir kaum die Zeit für eigene Gedanken. Erst als ich dabei war, den Erbseneintopf an die in einer Schlange Wartenden auszuteilen, konnte ich etwas aufatmen. Die trüben Gedanken an meine Familie waren deutlich erfreulicheren Erinnerungen an letzte Nacht gewichen, und ich lächelte still in mich hinein.

»Siehst gut aus heute, Schätzchen, strahlst richtig. Das ist schön zu sehen«, bemerkte Buck, als ich ihm den Eintopf auf den Teller füllte. Er war ein älterer Mann, der schon lange auf der Straße lebte und häufig zum Essen kam. Im Laufe der Jahre hatten wir uns ein bisschen angefreundet, und so hielten wir immer einen kleinen Plausch, wenn er kam.

»Wärmt mir das Herz«, lächelte er mich an. Er kannte mich auch an anderen Tagen, wenn meine Depressionen so schlimm waren, dass ich kaum aufrecht stehen konnte und ständig den Tränen nahe war. Er war immer freundlich zu mir und schien sich ehrlich um mich zu sorgen, als wäre ich diejenige, die auf der Straße lebte und Schutz brauchte. Einmal hatte er eine Lungenentzündung gehabt, und ich hatte mich um ärztliche Hilfe und Medikamente bemüht und sie bezahlt. Seitdem machte ich mir ständig Sorgen, dass er wieder krank werden könnte.

»Danke, Buck, du siehst auch gut aus. Wenn du mal wieder etwas brauchst, lässt du es mich wissen, ja?«

»Klar doch, Süße«, erwiderte er, rückte in der Schlange weiter und suchte sich einen Platz an den Tischen.

Ich ließ meinen Blick über die Essenden schweifen. Die meisten kannte ich vom Sehen, denn es gab viele Stammgäste. Nicht alle waren wohnungslos, aber manche so arm, dass sie ihr knappes Budget gelegentlich mit unseren kostenlosen Mahlzeiten verlängerten. Hinten in einer Ecke saß Sam, ein schmales, rothaariges Mädchen voller Sommersprossen, das sicherlich noch lange nicht volljährig und wohl von zu Hause weggelaufen war. Sie war sehr auf ihre Privatsphäre bedacht und zog sich sofort zurück, wenn man ihr mit neugierigen Fragen zu nahekam.

Vor ein paar Wochen hatte ich sie bei mir zu Hause übernachten lassen, weil sie keinen Schlafplatz im Heim bekommen hatte und krank gewesen war. Mein Angebot, länger zu bleiben, hatte sie nicht angenommen, aber seitdem war sie mir gegenüber weniger scheu. Unsere Blicke trafen sich, und ich nickte ihr lächelnd zu. Sie erwiderte die Geste.

Ich wollte lieber nicht zu ausführlich darüber nachdenken, wie sie auf der Straße überlebte, aber immerhin schien sie es geschafft zu haben, von den Drogen fernzubleiben. Anders als die meisten unserer Gäste. Das Leben auf der Straße war eine harte Sache, und Alkohol, Klebstoff oder andere einschlägige Substanzen konnten es, für den Moment zumindest, erträglicher machen.


Donnerstag, 14.9.

Auch heute ging mir »mein Jack«, wie ich ihn inzwischen im Stillen nannte, nicht aus dem Kopf, und ich ertappte mich immer wieder dabei, wie ich mich tagträumend in Erinnerungen an unsere gemeinsame Nacht verlor. Vielleicht sollte ich noch einmal hingehen? Wenn ich Glück hatte, war er ein häufiger Gast im Terrace Hotel, oder der Barkeeper konnte mir weiterhelfen. Gegen eine Wiederholung unserer nächtlichen Begegnung hätte ich nichts einzuwenden … Aber vielleicht war er sauer, weil ich einfach so verschwunden war. Andererseits war ich eine sehr einfache Eroberung für ihn gewesen, ohne Verpflichtungen oder den merkwürdigen Morgen danach. War es nicht das, was sich so viele Männer angeblich wünschten?

Ich schob den Gedanken beiseite. Heute war Donnerstag, und der Abend gehörte Marc, meinem Nachbarn, und das war auch etwas, das mir Freude bereitete.

Viele Jahre hatte ich mit Jules zusammengewohnt, aber vor etwa einem halben Jahr beschlossen, dass es Zeit war für einen Wechsel und ich auf eigenen Füßen stehen wollte. Jules hatte ein paar Monate zuvor eine neue Beziehung angefangen, die sich zu etwas Ernst- und Dauerhaftem zu entwickeln schien, so dass sie nicht allzu traurig war, mich als Mitbewohnerin zu verlieren und stattdessen ihre Partnerin bei sich einziehen zu lassen.

Ich hatte eine Wohnung in einem charmanten, alten Holzhaus in Cole Valley nicht weit vom Golden Gate Park gefunden. Es war wohl einmal Teil einer pittoresken Reihe Viktorianischer Villen ähnlich den berühmten Seven Sisters am Alamo Square gewesen, doch seine Nachbarn hatten entweder die Feuer nach dem großen Erdbeben von 1906 nicht überlebt oder waren später Vernachlässigung, Bauboom bzw. schnöder Geldgier zum Opfer gefallen. So wurde es nun etwas unschön eingerahmt von immerhin nicht total hässlichen Wohnhäusern jüngeren Datums, hatte aber den Luxus, kein Touristenmagnet zu sein und etwas zurückversetzt von der Straße zu liegen mit einem kleinen Rasenstück davor. Links vor der Haustür war sogar ein Stellplatz für ein Auto eingerichtet worden – eine fast unerhörte Rarität in San Francisco.

Der Besitzer hatte die Innentreppen entfernt, die an der rechten Seitenwand außen liegenden Feuertreppen kurzerhand zum Treppenhaus umfunktioniert und so das Haus in drei separate Wohnungen aufgeteilt. Das Souterrain wurde nicht vermietet, sondern diente dem Eigentümer als Lagerraum. Im Hochparterre wohnte Marc, ein Computerspezialist in meinem Alter, der von zu Hause aus arbeitete und speziell auf die Bedürfnisse meist mittelständischer Unternehmen zugeschnittene Software entwickelte. Oben unter dem Dach hauste in einem großen Studioapartment Arschloch-Mike, wie Marc und ich ihn getauft hatten. Er war Pilot bei Delta, flog die Langstrecke von San Francisco über Tokio nach Singapur und war deshalb glücklicherweise nur selten zu Hause, dann aber meist in wechselnder weiblicher Begleitung. Durch ein Missverständnis bei meinem Einzug, das auf Jules zurückging, hielten mich beide für lesbisch und fest mit ihr liiert, was mir ganz recht gewesen war. Das machte eine Nachbarschaft mit zwei Single-Männern unkomplizierter.

Meine Wohnung lag im ersten Stock und bestand aus einem großen offenen Wohn-/Essbereich mit Küche, der wie in den USA üblich gleich an der Eingangstür begann, zwei weiteren Zimmern, einem gar nicht mal so kleinen Bad und einem Hausarbeitsraum.

All die Jahre hatte ich recht anspruchslos gelebt und außer den Zinsen so gut wie nichts von meinem Geld in der Schweiz angetastet. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Blut daran klebte und es nicht recht wäre, wenn ich ein Leben im Luxus führte, das meine Familie nicht mit mir teilen konnte.

Doch nun gönnte ich mir die nicht ganz billige Wohnung und hatte auch Handwerker für die Malerarbeiten engagiert. Obwohl ich es wahrscheinlich gut selbst hätte machen können, hasste ich es zu streichen. Ich mochte den Geruch der Farbe nicht und war immer unzufrieden mit dem Ergebnis. Also hatte ich mir professionelle Hilfe geholt. Bei der Einrichtung wollte ich dann wieder zu meinem alten Grundsatz der Sparsamkeit zurückkehren und war mit Jules zu IKEA gefahren, hatte einen ganzen Hänger mit Kartons vollgepackt und sie zu meinem neuen Heim gebracht. Mir gefielen die meist dunklen und schweren amerikanischen Möbel nicht, und so hatte ich mich passend zum Sonnengelb der Wände für Weiß entschieden und plante weitere kräftige Farben für Vorhänge, Kissen und Bilder. Ich liebte es bunt und fröhlich. Das half mir beim Kampf gegen die schwarzen Monster.

Nach fast einem Jahrzehnt der Abkehr von meinem alten Ich fühlte ich mich nun auch bereit für diesen Schritt in die Vergangenheit, und so ließ ich Billy, Kallax, Ektorp und andere wieder in mein Leben. Außerdem war der Vorteil von IKEA-Möbeln ja, dass sie auch ohne Hilfe relativ leicht zu tragen und zusammenzubauen waren. Mit einem Akkuschrauber und dem »Inbusschlüssel fürs Leben« konnte ich umgehen.

Ich dachte an den Tag meines Einzugs zurück: Dass mir dann mein neuer Nachbar so tatkräftige Hilfe zukommen lassen würde, hatte ich nicht ahnen können. Als Dank dafür hatte ich Marc für den nächsten Tag zum Essen eingeladen und uns ein schönes Dinner gekocht. Es war ein wunderbares Treffen geworden. Wir entdeckten gemeinsame Interessen und unterhielten uns angeregt und gut. Ausklingen ließen wir den Abend mit einem Film, über den wir während des Essens gesprochen hatten. Dazu waren wir allerdings in sein Apartment umgezogen, denn mein Fernseher war noch nicht angeschlossen und hätte wohl auch nicht den technischen Anforderungen genügt, die heutzutage von vielen Menschen für unabdingbar gehalten wurden: riesiger Bildschirm, HD, Dolby Surround, Streamingdienste usw.

Weil das so schön gewesen war, hatten wir eine regelmäßige Sache daraus gemacht: Ich bereitete donnerstags ein Abendessen für uns zu, und danach gab es einen Film in Marcs Wohnung. So hatte unsere Freundschaft angefangen.

Inzwischen kochten wir allerdings auch gemeinsam, und das hatten wir eigentlich Arschloch-Mike zu verdanken und dem Zwischenfall, durch den er seinen Spitznamen von uns bekommen hatte.

Ein paar Wochen nach meinem Einzug passte Mike mich nämlich an einem Donnerstag vor meiner Tür ab. Bepackt mit Einkaufstüten kämpfte ich mich die Treppe hinauf und hatte gerade alles vor meiner Tür abgestellt, um nach meinem Schlüssel zu suchen, als er just die Stufen von oben herunterkam.

»Weißt du, du musst nur mal mit einem richtigen Mann zusammen sein, dann würdest du deine lesbische Phase überwinden.«

Echt jetzt?

»Ich würde mich da übrigens zur Verfügung stellen«, schlug er anzüglich vor und trat so dicht von hinten an mich heran, dass ich seinen Atem in meinem Nacken spüren konnte. Das war mir höchst unangenehm, und da ich befürchtete, dass er mich vielleicht in meine Wohnung schubsen und mir folgen würde, stoppte ich meine Schlüsselsuche. Auch gab ich meinen Plan auf, ihn einfach zu ignorieren. Ich drehte mich also um, setzte eine Hand auf seine Brust und wollte ihn von mir schieben. Aber er platzierte beide Hände neben meinem Kopf an der Tür hinter mir und machte Anstalten, an meinem linken Ohr zu nibbeln. »Ich bin sehr gut. Du wirst nichts anderes mehr wollen«, raunte er. »Du willst es doch auch, gib es zu.«

Äh … nein!!!

Ich stieß ihn mit beiden Händen von mir und holte gerade Luft zu einer Erwiderung, die sich gewaschen hatte, als ich Marcs scharfe Stimme hörte: »Ey, Mike, lass sie in Ruhe!« Wütend kam er die Treppe hochgestürmt.

»Was geht dich das an, Loser? Wir haben hier gerade ein kleines Tête-à-tête, und du störst!«

»Glaube ich nicht.« Damit stieß er Mike unsanft beiseite und baute sich zu voller Größe auf. »Außerdem ist sie mit mir verabredet«, setzte er herausfordernd hinzu und legte in besitzergreifender Geste eine Hand auf meine Schulter, jedoch nur in ganz leichter Berührung. Obwohl in der Regel ein zurückhaltender, friedlicher Mensch konnte Marc mit finsterem Gesichtsausdruck und entsprechender Haltung bedrohlich und einschüchternd wirken. Er strahlte eine gut kontrollierte innere und äußere Stärke aus, die je nach Absicht auf Frauen anziehend, auf konkurrierende Männer jedoch gefährlich wirken konnte.

Das spürte auch Mike, denn bemüht um einen würdevollen Rückzug lachte er verächtlich auf: »Na, da hat der Computerfreak auch mal eine abgekriegt. Ist aber nur ’ne blöde Lesbe und nicht der Mühe wert. Ich mach mich vom Acker.« Sprach’s und polterte die Stufen zu seiner Wohnung hinauf.

»Was für ein Arschloch!«, konstatierte Marc ihm nachschauend und nahm seine Hand von meiner Schulter.

»Danke, das war wirklich unangenehm«, erwiderte ich erleichtert aufatmend und fügte dann halb im Spaß hinzu: »Hat mein Retter in der Not Lust, gleich mit reinzukommen und mir beim Kochen zu helfen? Du darfst aber auch gern nur zuschauen, und wir unterhalten uns ein bisschen.«

Das war der Beginn unserer gemeinsamen Kochabende gewesen. Marc brachte keine große Erfahrung in der Küche mit, aber lernte schnell und war ebenso wie beim Möbelaufbauen ein aufmerksamer Zuarbeiter. Wir waren ein gutes Team, und ich genoss unsere Zusammenarbeit – anscheinend ebenso sehr wie er.

Heute war also wieder so ein Donnerstag, und wie immer freute ich mich darauf. Ich hatte ein Nudelgericht geplant, und zweifelsohne würden wir beim Essen wieder eins dieser Gespräche führen, die ich so liebte. Marc hatte sich von meiner Faszination für die Antike anstecken lassen und war inzwischen auch recht belesen in diesem Thema. Unser Wissensschatz ergänzte sich perfekt. Oft konnte der eine dem anderen etwas Neues erzählen, oder wir diskutierten angeregt über einen Aspekt dieser Epoche, der uns beiden gleichermaßen wichtig war. Danach würde ich mein Privileg ausüben, das Marc mir großzügigerweise eingeräumt hatte, und aus seiner vorbereiteten Auswahl von drei bis vier Vorschlägen den Film des Abends herauspicken. Es war immer ein sehr harmonisches Beisammensein, und ich konnte mir ein Leben ohne diese Treffen gar nicht mehr vorstellen.

* * * * * * *

Marc dachte an ihre erste Begegnung an Lexis Einzugstag. Mike hatte seinem Ruf alle Ehre gemacht und die neue Nachbarin gleich um ein Date gebeten. Er rief sich grinsend die Abfuhr, die er erhalten hatte, in Erinnerung. Leider hatte Mike nicht lockergelassen und Lexi ein paar Wochen später vor ihrer Tür abgepasst und nochmal richtig doof angemacht. Doch das war glücklicherweise gut ausgegangen – insbesondere für ihn selbst, wenn er an die daraus entstandenen gemeinsamen Kochabende dachte.

Am Tag ihres Einzugs hatte er selbst ihr dann später mit ihren Möbeln geholfen. Sie war mit einem ganzen Hänger voll Paketen gekommen, und zusammen hatten sie alles in ihr Apartment getragen. Wer kaufte denn zerlegte Möbelstücke und setzte sie selbst zusammen? Das sollte doch eigentlich im Service inbegriffen sein.

»Ich helfe dir gern beim Aufbauen«, hatte er angeboten.

»Wenn du es tatsächlich ernst meinst, lehne ich diese großzügige Offerte nicht ab. Ein Paar extra Hände ist immer willkommen«, hatte sie freundlich lächelnd geantwortet.

Und so war er den Abend geblieben. Sie hatten zunächst Berge von Müll produziert, indem sie alles auspackten, und dann machte Lexi sich an den Aufbau. Bewaffnet mit einem Akkuschrauber studierte sie konzentriert die Anleitungen und setzte die Teile gekonnt zusammen. Sie schien genau zu wissen, was sie tat, und sein Part beschränkte sich eher auf den eines Hilfsarbeiters. Geschickt ging sie mit dem Werkzeug um, und bald nahmen Regale, Kommoden, Tisch und Stühle Gestalt an.

Obwohl es an diesem Märztag nicht eben warm war, hatte sie bei der Kleiderwahl Weitsicht bewiesen, denn bei der Arbeit kamen sie – für ihn eher unerwartet – ganz schön ins Schwitzen. Sie trug kurze Hosen, die ihren halben Oberschenkel bedeckten und über dem BH ein schnörkelloses Trägertop. Die langen blonden Haare hatte sie mit einem Bleistift (Das hielt wirklich einfach so?) hinten zu einem lässigen Knoten hochgesteckt. Es war viel nackte Haut zu sehen, und er genoss den Anblick. Viel mehr jedoch genoss er die Art, wie sie sich bewegte und all ihre Handgriffe saßen, wenn sie die Bretter zusammenschraubte.

Sie arbeiteten gut zusammen, und er bemühte sich, ein hilfreicher Zuarbeiter zu sein, indem er vorausahnte, was sie als nächstes brauchen würde, und es ihr geben konnte, bevor sie danach fragte. Irgendwann lachte sie ihn an: »Du bist ein toller Helfer, das ist super!«

Merkwürdigerweise war er sehr stolz auf diese anerkennenden Worte und gab lächelnd zurück: »Das liegt wahrscheinlich an meiner kompetenten Vorarbeiterin.«

»Mit solchen Möbeln bin ich groß geworden«, erklärte sie. »Eigentlich bin ich Dänin, aber im Norden Deutschlands geboren und aufgewachsen. Dort sind viele Leute mit IKEA eingerichtet, und solche Sachen habe ich früher schon einmal zusammengeschraubt … Damals hatte allerdings ich den Assistentenjob.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, und sie wurde still.

Interessant.

Als sie endlich fertig waren, ließ sie sich erschöpft auf einen Stuhl fallen: »Heute bin ich zu erledigt, und ich muss auch noch den Leihanhänger zurückbringen und mit Jules Autos tauschen. Aber morgen würde ich dich gern als Dankeschön für deine großartige Hilfe zum Abendessen einladen. Wenn du so um sieben raufkommst, hab ich uns was Schönes gekocht. Hast du Zeit und Lust?«

Klar hatte er Zeit und Lust gehabt.

Inzwischen war ein halbes Jahr vergangen, und Lexi und er hatten viele Donnerstagabende miteinander verbracht. Sie waren die Highlights seiner Woche. Er war nicht gern unter Menschen, hatte eigentlich nur einen einzigen guten Freund aus seiner Kindheit, mit dem er auch zusammen beim Militär gewesen war. Seit ihrem Einsatz in Afghanistan kam er noch weniger gut mit Menschen zurecht, mied ihre Gesellschaft und verließ auch seine Wohnung nicht oft. Aber mit Lexi war es anders. Sie war von Beginn an einfach nur umwerfend gewesen. So lebenslustig und strahlend. Wie hatte er sich nicht in sie verlieben können? Denn dass er im Laufe der Zeit tiefe und echte Gefühle für sie entwickelt hatte, wusste er. Da machte er sich nichts vor. Aber da sie nicht auf Männer stand, musste er sich wohl oder übel darauf beschränken, sie heimlich anzuhimmeln – und sich auf die Donnerstage zu freuen.

* * * * * * *

»So, jetzt ist alles Lexi-sauber«, stellte Marc mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung fest. Das war sein Wort für meinen Standard an Sauberkeit. Ich mochte nach dem Kochen kein unaufgeräumtes Schlachtfeld für den nächsten Morgen hinterlassen. Also hatte ich Marc in das Geheimnis eines guten Kochs eingeweiht: Nutze jede freie Minute zwischendurch zum Aufräumen, dann ist das Klar-Schiff-Machen nach dem Essen nicht mehr so schlimm. Daran hatten wir uns an all unseren Kochabenden gehalten, und so war es tatsächlich kein Problem, die Küche ordentlich zu hinterlassen, bevor wir zum Fernsehen in Marcs Wohnung wechselten.

»Dir ist schon bewusst, dass ich in meinem ganzen Leben zusammengenommen nicht so viel Zeit in der Küche verbracht habe wie in den Monaten, die wir zusammen kochen?«

Ich wollte eigentlich erwidern, dass ihm das alles seine Mutter hätte beibringen sollen, aber ich hatte gelernt, dass seine Familie und Herkunft kein gutes Thema waren, also bemerkte ich stattdessen scherzend: »Das macht dich zu perfektem Ehemann-Material. Wenn das bekannt wird, werden die Damen bei dir Schlange stehen, und deine Zukünftige wird sich bei mir bedanken.«

Sein Blick veränderte sich, und ich erkannte sofort, dass diese Bemerkung auch nicht gut gewesen war. »Entschuldige, ich wollte dich nicht ärgern. Es war ein blöder Witz«, sagte ich schnell.

Einen langen kurzen Moment schauten wir einander an, und ich versuchte zu ergründen, woher die plötzliche Traurigkeit in seinen Augen kam. Solange ich ihn kannte, hatte er nie eine Freundin (oder Freund?) erwähnt, auch nicht in der Vergangenheitsform. Hatte er schlechte Erfahrungen gemacht oder wie ich jemanden verloren?

Dann blickte er weg und wechselte das Thema: »Ist schon gut. Hast du dich schon für einen Film entschieden?«

Froh über die Ablenkung schlug ich einen spanischen Thriller vor, der in Marcs Auswahl gewesen war, und griff zur bereitgelegten Thunfischdose, die ich seinem Kater Quintus immer mitbrachte.

 

2. Ein Fettsack und ein Held

Samstag, 16.9.

Am Samstag hatte ich es nicht mehr ausgehalten und war spontan abends in die Bar des Terrace Hotels gefahren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich Jack dort wiedertreffen würde, war mehr als gering, aber wie ich mir als Mathematikerin sagte, eben nicht gleich Null. Also hatte ich mich hübsch gemacht und war losgezogen. Ein kurzer Blick durch den Raum hatte mir jedoch die erwartete Enttäuschung beschert. Natürlich war er nicht da. Ich bestellte mir etwas zu trinken und setzte mich in die gleiche Ecke wie vergangene Woche. Vielleicht hatte ich doch noch Glück, und er tauchte etwas später auf.

Leider hatte ich gleich bemerkt, dass der unangenehme dicke Typ von neulich wieder da war. Ausgerechnet. Er beäugte mich unfreundlich. Blödmann.

Nach etwa einer Stunde gab ich mein Unterfangen auf, ging aber noch auf die Toilette in einem Seitenflur zwischen Bar und Lobby, bevor ich nach Hause fahren wollte. Als ich mir die Hände wusch, wurde die Tür aufgestoßen und der Dicke kam herein. Ich ahnte nichts Gutes, erklärte aber höflich: »Sir, ich glaube, Sie haben sich in der Tür vertan. Dies ist die Damentoilette.«

»Nein, habe ich nicht. Du hast neulich auf jemanden gewartet? Scheiße, nein! Glaubst du, ich hab nicht gesehen, dass er erst allein am Tresen gesessen hat, bevor du mit ihm mitgegangen bist? Du billige Schlampe, ich war dir wohl nicht gut genug!« Ohne Vorwarnung hatte er ausgeholt und mir mit dem Handrücken eine so schallende Ohrfeige verpasst, dass ich rücklings gegen die Kabinentüren knallte und zu Boden ging. Gleich darauf machte er einen schnellen Schritt und trat mir mit dem rechten Fuß kräftig gegen den Oberschenkel. Danach beugte er sich hinunter, riss mich an den Haaren halb wieder hoch und spuckte mir ins Gesicht. Für einen so beleibten Mann bewegte er sich unerwartet schnell.

Gelähmt vor Schock und Schmerz spürte ich, wie die alte Angst plötzlich wieder durch meine Glieder kroch und mich vereinnahmen wollte. Kurz zögernd wollte ich sie schon wie eine alte Bekannte begrüßen und mich ihr ergeben, als ich mich dann doch zusammenriss: Keine Wiederholung der Vergangenheit! Schon lange nicht mehr war ich Clints willenloses Opfer, sondern eine selbstsichere Frau, die das hier einigermaßen unbeschadet überstehen würde, weil sie sich wehrte.

Seinen Schritt genau vor meinen Augen griff ich so fest zu, wie ich konnte, und zog, quetschte und drehte. Lautes Schmerzensgebrüll. Er ließ mich los und wollte meine Hände abwehren, aber ich gab nicht nach, bis er wie ein großer Sack zur Seite kippte und mit der Stirn hart auf dem Boden aufschlug. Stöhnend blieb er liegen. Mühsam rappelte ich mich hoch und sprintete zur rettenden Tür. Im Flur prallte ich auf eine breite Männerbrust.

»Hey, Lady, nicht so stürmisch. Ein einfaches ›Ich will dich!‹ hätte auch genügt!«, hörte ich eine bekannte Stimme spotten. Verblüfft schaute ich in das Gesicht des Sprechers und erkannte Jack – meinen Jack, meinen fantastischen One-Night-Stand-Jack! Den, der mir nicht aus dem Kopf gegangen und dessentwegen ich hierhergekommen war …

»Oh, du bist es … Cinderella … schön, dich wiederzusehen! Was ist los?« Offensichtlich hatte er seine Überraschung gut im Griff und den Ernst der Lage schnell erkannt.

»Ich bin gerade in der Toilette belästigt worden.«

»Ist der Täter noch da?« Zu meinem Erstaunen zog Jack eine Waffe, schob mich hinter sich und öffnete die Tür einen Spalt. »Da liegt ein dicker Mann heulend auf dem Boden«, stellte er konsterniert fest.

»Äh ja, ich hab mich gewehrt.«

»Wow, du scheinst ganze Arbeit geleistet zu haben. Soweit ich das beurteilen kann, wächst da so schnell kein Gras mehr.« In seinen Augen lag so etwas wie Bewunderung.

Der Zwischenfall war wohl aufgrund des Gebrülls nicht unbemerkt geblieben, und von irgendwoher kamen zwei Sicherheitsleute des Hotels. Aus Jack wurde ganz der professionelle Ordnungshüter: »Ich bin Special Agent Mackenzie vom FBI. Ms. … Smith ist gerade in der Damentoilette angegriffen worden. Glücklicherweise konnte sie sich wehren und entkommen. Nehmen Sie den Mann fest und rufen Sie SFPD«, kommandierte er sie herum, seine Marke zeigend. Dann führte er mich zu einer Couch in der Lobby und schaute mich forschend an: »Bist du verletzt? Wie schlimm ist es?« Behutsam wischte er mir mit einem Taschentuch den Speichel des Fettsacks aus dem Gesicht.

So weit hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich war immer noch mit dem Schock des Angriffs und dann des plötzlichen Aufeinandertreffens mit Jack beschäftigt. Nun stellten sich aber Übelkeit und leichter Schwindel ein, und ich musste gegen eine Ohnmacht ankämpfen.

Wie peinlich. Reiß dich zusammen.

Plötzlich stand jemand vom Management vor uns: »Ms. Smith, wir sind zutiefst entsetzt darüber, was Ihnen in unserem Haus widerfahren ist, und möchten uns in aller Form entschuldigen. Die Polizei wurde bereits verständigt, so dass Anzeige erstattet werden kann. Können wir etwas für Sie tun? Brauchen Sie einen Arzt? Wir bieten Ihnen gern ein Zimmer an, in das Sie sich zurückziehen können.«

Panik setzte bei mir ein: »Nein, keine Polizei. Danke, es geht schon. Eine Anzeige ist nicht nötig, es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«

»Doch ist es schon«, mischte Jack sich ein. »SFPD soll die Personalien des Täters aufnehmen. Anzeige kann Ms. Smith auch später erstatten, und das Zimmer nimmt sie gern. Ich begleite sie und lasse Sie es wissen, ob ein Arzt benötigt wird.«

»Das ist wirklich nicht …«, versuchte ich schwach abzulehnen.

Aber Jack ließ sich nicht beirren, hängte mir sein Jackett über die Schultern und führte mich dem Manager folgend in den Fahrstuhl und durch ein paar Flure zu einer großen Suite mit separatem Wohn- und Schlafzimmer. Dort setzte er mich auf das kleine Sofa und begann, mich auf Verletzungen zu untersuchen. Lautlos zog sich der Hotelmanager zurück.

Ich war immer noch wie betäubt.

Kurz darauf klopfte es, und ein Page brachte auf einem Servierwagen einen großen Teller mit aufgeschnittenem Obst, ein paar Sandwiches und süßem Gebäck. In einem Kühler standen je eine Flasche Weißwein und Wasser. »Die Polizei ist nun da. Soll ich die Beamten holen?«

Inzwischen zitterte ich unkontrolliert und schaute Jack flehend an. Er verstand. »Ich rede mit ihnen. Bleiben Sie bitte bei Ms. Smith«, ließ er den Pagen wissen und zu mir gewandt: »Komm, leg dich hin und die Beine hoch. Kann ich dich einen Moment allein lassen? Ich bin gleich wieder da.« Dankbar nickte ich und schloss die Augen.

Als Jack zurückkam, hatte er einen Verbandskasten, Schmerztabletten und einen Eisbeutel besorgt. »Sie gehen jetzt wieder. Wenn du es dir anders überlegst, kannst du morgen auf dem Revier Anzeige erstatten. Das Hotel hat dem Mann Hausverbot erteilt, und er wird die Nacht in einer Zelle verbringen. Wie geht es dir?« Der Page entfernte sich diskret.

»Es geht, glaube ich.« Ich setzte mich wieder auf. Obwohl ich nicht mehr zitterte und auch der Schwindel vergangen war, kostete es mich alle Kraft, die Auswirkungen des Schocks unter Kontrolle zu halten und mich nicht völlig in Tränen aufzulösen. Auf keinen Fall wollte ich hier als Häuflein Elend enden. So schlimm war es nun auch wieder nicht gewesen. Ich hatte mich erfolgreich gewehrt. Es war nicht wie bei Clint. Kein Grund, die Jungfrau in Nöten zu spielen.

»Er hat mich ins Gesicht geschlagen und dann getreten, als ich auf dem Boden lag. Ich habe wohl Prellungen an Armen und Beinen, meine Hüfte tut weh.« Ich schaute an mir hinunter und prüfte auf schmerzende Körperteile.

Jack nahm neben mir Platz, legte einen Arm um mich und drückte mir sanft den Eisbeutel auf die glühende Wange. »Der Scheißkerl hat wohl einen Ring getragen. Deshalb hast du einen Kratzer im Gesicht, und auch ein Knie ist aufgeschlagen. Ich kümmere mich darum.« Er begann, vorsichtig die Stellen abzutupfen, eine Salbe darauf zu streichen und beklebte sie schließlich mit Pflastern. Merkwürdig entrückt beobachtete ich ihn und ließ es geschehen.